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BAZ - Der Grosse Kater

Samir, Basler Zeitung 25. September 2009

In der Schweizer Filmszene herrscht grosse Ratlosigkeit, und dies sicher nicht nur, weil die offenen Fragen zum produktionellen Desaster um SENNENTUNTSCHI (Michael Steiner) alle umtreibt. Der grosse Kater kommt nach etlichen erfolgreichen Kinojahren, die im Jahr 2007 in einem Zehn-Prozent-Marktanteil gipfelten. Doch seither ging es kontinuierlich bergab. So reichte es letztes Jahr nur noch auf einen Marktanteil von 2,9 Prozent, dieses Jahr wird er womöglich noch tiefer sein. Dass es nicht an der Promotion liegen kann, zeigen die enttäuschenden Zahlen von Pipilotti Rists PEPPERMINTA in den Kinos. Dies wirft einen Schatten auf die gesamte Branche.

Nun sagen Zahlen allein noch nichts über den Zustand einer Branche aus. Beim Indikator internationaler Filmfestivals ist eine grosse Anzahl Schweizer Filme gut im Rennen (vor allem Dokumentarfilme bei vielen kleinen Festivals). Doch im Gegensatz zum ähnlich kleinen Filmland Österreich machte kein Schweizer Spielfilm in den letzten drei Jahren Furore bei den «grossen drei»: Cannes, Berlin, Venedig. Bestenfalls liefen sie in Nebensektionen wie PEPPERMINTA in Venedig, oder HOME (Ursula Meier) als Einzelvorführung in Cannes. Nun stehen wir vor einem Halbjahr mit vielen Starts von neuen Schweizer Spielfilmen. Etliche sind seit Längerem fertig, fanden aber bisher keinen Weg in die Kinos. Von SENNENTUNTSCHI oder CHAMPIONS (Riccardo Signorel) weiss man nicht mal, wann und ob sie fertiggestellt werden. Die Hoffnungen der Branche ruhen auf einigen wenigen Filmen.

Etliche davon sind Genre-Filme wie CARGO (Ivan Engler), der «erste Schweizer Science-Fiction-Film», der Thriller IM SOG DER NACHT (Markus Welter) oder der Polizeikrimi VERSO (Xavier Ruiz). Daneben gibt es Literaturverfilmungen wie Martin Suters GIULIAS VERSCHWINDEN (Christoph Schaub), Andrea Maria Schenkels TANNÖD (Bettina Oberli) oder Thomas Hürlimanns DER GROSSE KATER (Wolfgang Panzer), die für ein grosses Mainstream-Publikum gedacht sind. Auffallend: Keiner dieser Filme ist im Art-House-Bereich angesiedelt, obgleich sich alle diese Filmemacher in diesem Bereich einen Namen gemacht hatten. Auffallend auch: Keiner dieser Filme setzt sich mit gesellschaftlich relevanten Fragen auseinander, wie es GROUNDING (Michael Steiner) vorgemacht hatte. Dazu kommt, dass alle diese Schweizer Filme auf Hochdeutsch gedreht worden sind. Zu hoffen ist, dass diese Filme ein grosses Publikum finden! Zurück zum grossen Unbehagen in der Branche.

Zuerst sollte man die erfolgreichen Jahre anschauen, um zu verstehen, was schiefgelaufen ist. Die Erfolge der Jahre 2005–2007 hatten vor allem damit zu tun, dass nicht nur auf Mainstream gesetzt wurde, sondern auf eine breite Palette von Genre und Filmstoffen.

Die Hits waren in drei Bereichen zu finden: Auf der einen Seite eine gros se Anzahl von Art-House-Filmen, die sich mit Gegenwartsproblemen der Schweiz befassten, wie Bankerdrama NACHBEBEN (Stina Werenfels) oder die Migrantinnengeschichte DAS FRÄULEIN (Andrea Staka). Diese beiden Filme hatten fast gleich viel Zuschauer wie die zeitgleich gestarteten Möchtegern-Blockbuster BREAKOUT und TELL (beide Mike Eschmann).

Erfolgreich im Kino waren aber auch noch zwei weitere gross angelegte Filme: das nationale Drama um das Swissair-GROUNDING und der Kinderfilm MEIN NAME IST EUGEN (Michael Steiner). Dazu kamen noch zwei erfolgreiche mittelgrosse Projekte: die Komödie JEUNE HOMME (Christoph Schaub) und das Jugend-Drama SNOW WHITE (Samir). Daneben sollte man aber nicht vergessen, dass im Verhältnis von Aufwand und Ertrag die beiden Fernsehfilme STERNENBERG (Christoph Schaub) und DIE HERBSTZEITLOSEN (Bettina Oberli), die nur einen Bruchteil der Kosten der Mainstream-Filme verursachten, die eigentlichen grossen Abräumer waren!

Der Grossteil dieser Filme war in der Zeit vor dem Antritt des neuen Chefs der Sektion Film vom Bundesamt für Kultur (BAK) und seiner Kommissionen entwickelt worden. Nach den Neunzigerjahren, in denen der Schweizer Film in eine tiefe Depression gefallen war, kam durch eine Welle von Filmabsolventen der neuen Filmschulen und durch die Kampagne für die erweiterte Zürcher Filmförderung ein neuer Wind in die ganze Branche.

Gleichzeitig wurde der Grabenkrieg zwischen Filmemachern und Fernsehen durch die Institutionalisierung der Zusammenarbeit im sogenannten «Pacte de l’audiovisuel» beendet. Durch den Beschluss des Deutschschweizer Fernsehens, eigene Filme zu finanzieren, wurde das Deutschschweizer Publikum auf die Entdeckung der eigenen Filmlandschaft hinbewegt und ein neuer Enthusiasmus in der Branche geweckt. All dies wurde, trotz Friktionen mit Marc Wehrlin, damals Vorsteher der Sektion Film beim Bundesamt für Kultur, gemeinsam von allen Filmverbänden getragen. Durch diese gemeinsame Arbeit entstand ein ungeschriebener Konsens, der darin mündete, möglichst viele kleine Filmprojekte und daneben nur einige wenige grosse Mainstream-Filme zu unterstützen. Dazu wurde auch die Filmkommission beim Bundesamt für Kultur in zwei Fördergremien unterteilt: eines für den Nachwuchs (bis zum zweiten Film) und eines für die arrivierten Filmemacher (dafür mit höheren Beiträgen). Diese drei grundlegenden Änderungen – sechs Fernsehfilme pro Jahr, Nachwuchsförderung und sehr viel mehr Geld durch die neu gegründete Zürcher Filmstiftung – waren die Grundlagen für den Aufbruch und erlaubten der Branche, den Wegzug von Schweizer Talenten ins Ausland zu stoppen und viel mehr Filme ins Kino zu bringen, um mit einer breiten Fächerung der Themen und Talente mehr Möglichkeiten zu schaffen.

Gleich zu Beginn der Amtszeit von Nicolas Bideau, der die Erfolge der Filme seines Amtsvorgängers begleiten durfte, wurde den Filmemachern durch den Bundesbeamten vorgehalten, ihre Filme seien nicht erfolgreich genug und müssten sich der Doktrin von «Qualité et Popularité» unterwerfen. In der damaligen Aufbruchstimmung wollte in der Deutschschweiz niemand so genau die französischen Worte erläutert haben, mit Ausnahme des Solothurner Festivaldirektors Ivo Kummer, der schon 2007 nachfragte, ob damit gemeint sei, dass die Schweizer Filmemacher nur noch dem Mainstream zuarbeiten müssten.

Die eidgenössische Filmförderung wurde in der Folge radikal umgebaut und die Mitglieder der Filmkommissionen durch den Chefbeamten besetzt. Schon im ersten Jahr reklamierten die drei Filmverbände gegen diese Massnahme. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie kein Vorschlagsrecht mehr hätten für die Mitglieder der Filmkommissionen, aber selbstverständlich werde der Chef sich kundig machen.

Gleichzeitig wurde die Kommission für den Nachwuchs abgeschafft und die Höchstsumme auf eine Million erhöht. Die neue Spielfilmkommission begann ausserdem, systematisch nicht mehr alles Geld zu verteilen (Overbooking genannt). Das heisst, dass das Budget nicht mehr überzogen wurde. Eine Massnahme die sich vernünftig liest, bei der Filmförderung aber kontraproduktiv ist, weil selten alle Projekte, denen Geld zugesprochen wurde, auch ausfinanziert werden können. Notabene: Es kam in den letzten zwanzig Jahren nur einmal zu einem finanziellen Engpass in der eidgenössischen Förderung und die Branche akzeptierte ohne Murren, dass ein Einreichungstermin für Spielfilme suspendiert wurde.

Um den über Jahre gewachsenen Erfolg endgültig abzuwürgen, wurde bei der Verleihförderung die minimal zu erreichende Zuschauerzahl, gegen den Protest der kleinen Schweizer Verleihfirmen, um das Doppelte angehoben.

Innert fünf Jahren brach das Schweizer Filmwunder zusammen! Weniger kleine Spielfilme entstanden, während gleichzeitig der Unmut der Kinobesitzer wuchs, das Risiko auf sich zu nehmen, kleine Art-House-Filme zu zeigen, weil sie dafür nicht mehr genügend Unterstützung durch Förderung erhalten. Bei den Mainstream-Filmen wurde eine grosse Finanzierungslücke geschaffen, weil grosse Budgets nur mit ausländischen Koproduzenten zu finanzieren sind. Diese warten aber nicht unbedingt auf genuin schweizerische Themen, und so kommt es, dass, salopp gesagt, deutsche Schauspieler Schweizer spielen müssen. Und dazu dauert es noch länger, bis ein Film ins Kino kommt, weil die Finanzierung bei grossen Filmen länger dauert.

Abgesehen davon, dass es keine Patentrezepte für Kinoerfolge gibt, sollte man sich trotzdem an Regeln halten, die seit hundert Jahren gelten. Leider hat es nicht damit zu tun, dass eine aufwendige Promotion zum Erfolg führt, auch wenn sie hilfreich ist. Leider hat es auch nicht mit dem Auftreten von bekannten Schauspielern zu tun, dafür gibt es genügend Filmflops in der Geschichte, die das Gegenteil beweisen. Und es gibt auch keine Garantie, dass höhere Budgets bessere Filme erzeugen.

Eine griffige Formel für das Film-Business haben die Amerikaner gefunden: Aus 1000 Ideen ergeben sich 100 Drehbücher, aus 100 Drehbüchern lassen sich eventuell zehn Filme finanzieren, aus zehn Filmen wird vielleicht einer zum Hit. Und sie beweisen es gleich selbst: Von den 500 Hollywood-Produktionen jährlich sehen wir 30 bis 50 in den Kinos, nur wenige davon sind ein Publikumsrenner. Also: Möglichst viele Drehbücher ergeben eine höhere Chance auf einen Kinoerfolg.

Doch in der Schweiz geschieht genau das Gegenteil. Seit dem Antritt von Bideau machen die Filmverbände darauf aufmerksam, dass mehr Geld in die Projektentwicklung, vor allem in das Schreiben von Drehbüchern gesteckt werden sollte. Trotz Versprechen gingen die Bewilligungen stetig zurück (2007: 31 Drehbuchprojekte, 2008: 14, 2009: 8). Und auch dieses Jahr wurden die Budgets nicht voll ausgeschöpft, also das sogenannte «Overbooking» nur minimal angewandt.

Die Branche steht nicht nur wegen den oben skizzierten Strukturproblemen vor einem Scheideweg. Jeder internationale Filmverkäufer weiss, dass die Schweiz einen der interessantesten Kinomärkte der Welt hat. Die Untersuchung von 2008 des Bundesamts für Statistik zeigt klar auf, dass die Schweizer Filmbranche, neben dem jungen Publikum, das sich hauptsächlich für die internationalen Mainstream-Filme interessiert, ein sehr grosses Segment im urbanen Sektor der älteren Zuschauer zwischen 30 und 50 Jahren bedienen kann. Dies lässt sich auch an den erfolgreichen sogenannten «schwierigen Art-House-Filmen» belegen, die zwischen 25 000 und 100 000 Zuschauer finden. Daneben hat ein Film wie DIE HERBSTZEITLOSEN gezeigt, dass auch ein altes Publikum sich für genuin schweizerische Stoffe interessiert. Dieses Segment setzt sich laut Statistik aus der gut ausgebildeten und gut verdienenden Mittelschicht zusammen. Autoren, Produzenten und Regisseure sollten bei der dürftigen Schweizer Filmförderung (wir haben nur die Hälfte des Budgets der erfolgreichen dänischen Filmförderung!) gut überlegen, welche Stoffe sie entwickeln möchten. Die Schweiz in der Mitte von Europa, zwischen drei grossen Kulturblöcken gelegen und mit der höchsten Migrationsrate auf diesem Kontinent, wird thematisch zu wenig behandelt.

Es gibt über die Schweizer Bankenwelt oder die internationale Gemeinschaft, die in der Schweiz verkehrt und uns momentan Schlagzeilen liefert, kein einziges Filmprojekt. Die ökonomischen Auswirkungen der Globalisierung, die bei jedem Akademiker Auswirkungen zeigen (und sei es nur, dass deutsche Professoren erfolgreicher an der Uni sind), spielen in den Stoffen der Filmemacher keine Rolle. Die Facharbeiter, denen Jobs gekündigt und deren Arbeitsplätze in die weite Welt durch eben schweizerische Konzerne verschoben werden, kennen meine Kollegen nicht. Gar nicht zu reden von der Misere der Sans-Papiers, den unterqualifizierten Secondos und den Problemen von gemischten Ehen. Aus all diesen Stoffen könnte man universelle Komödien oder Dramen entwickeln. Die Schweiz hat eine revolutionäre Geschichte im 19. Jahrhundert gehabt, aber nichts davon ist in den Stoffentwicklungen zu sehen. Tausende von bürgerlichen Aufständischen wurden in der Schweiz aufgenommen und trugen dazu bei, die Industrie und den modernen Bundesstaat aufzubauen. Wie viele Stoffe schlummern hier, um grosse Koproduktionen mit den Nachbarländern aufzubauen? Gar nicht zu reden von all den verrückten Alpensagen (nicht nur SENNENTUNTSCHI), die es hier gibt und überall verstanden werden können. Zur Erinnerung: Fredi Murers HÖHENFEUER machte damals alleine in Paris 150 000 Zuschauer. Wir sollten an diese Themen anknüpfen. Talente hat es genug in diesem Land!


Samir, geboren 1955 in Bagdad, seit den 60er-Jahren in der Schweiz, ist Regisseur und Produzent bei Dschoint Ventschr und lebt in Zürich.