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Transit Uri
CH 1993 77'

Regie: Dieter Gränicher
Drehbuch: Dieter Gränicher
Kamera: Peter Liechti
Ton: Martin Witz, Dieter Lengacher
Schnitt: Dieter Gränicher
Musik: Ruth Bieri
Produktion: momenta film GmbH, Dieter Gränicher

Dieter Gränicher 1993 77'


Immer mehr und immer weiter reisen die Menschen, immer mehr Güter werden hin und her verschoben. Scheinbar unaufhaltsam, stetig wachsend...

Einer der schnellsten Wege durch die Alpen führt über den St. Gotthard, diesen Mythos der Urschweiz. "Europa" fährt vorbei, der Kanton Uri ist Durchgangsland. Die Transitachsen fliessen hier, eingeklemmt durch die steilen Berge, wie durch ein Nadelöhr... Autobahn, Eisenbahn, Strassen.

Schon seit Jahren wehren sich viele Urner... es werde ihnen zuviel: Luft, Landschaft, ihr ganzer Lebensraum seien zu fest belastet. Insbesonders der Schwerverkehr auf der Strasse ist für viele ein Stein des Anstosses.

Das Grossprojekt der NEAT (Neue Eisenbahn-Alpentransversale) verspricht, Verbesserungen zu bringen, den Schwerverkehr von der Strasse auf die Schiene umzulagern. Ein breiter Konsens kann in der Schweiz gefunden werden; die NEAT wird als "Eintrittskarte" für das zukünftige Europa verstanden. Ein richtungsweisender Beitrag in eine umweltschonende Richtung, sagen viele Politiker. Doch das Parlament weigert sich, die Umlagerung von der Strasse auf die Schiene gesetzlich festzulegen. Im Kanton Uri regt sich wiederum Opposition. Viele befürchten bloss eine weitere Verkehrsachse durch ihren Talboden, bloss noch mehr Verkehr...

Ein persönlicher Blick von mir in diesen Kanton, in seine Landschaften; Gespräche mit Betroffenen, die in diesem Tal leben. Ein essayistischer Film über grundsätzliche Fragen der Mobilität... die Faszination des Mobil-Seins versus der Zerstörung des Lebensraumes, Hast und Gemächlichkeit, "Am-Ort-Sein" und flüchtige Vorbeifahrten... Filmaufnahmen von der Mitte der dreissiger Jahre des Urner Jonas Bühler geben Einblick in das Früher, erzählen davon, was ihn damals filmisch faszinierte. Was geht verloren, wenn wir fortschreiten, wenn wir alle unsere Bemühungen auf die Entwicklung der Mobilität richten? - Ein Bahnprojekt wie die NEAT macht die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach der Erhaltung des Lebensraumes und dem Zwang zur Optimierung und Rationalisierung, zur Erhöhung der Geschwindigkeit spürbar. Sind die Alpen nur noch ein Hindernis für den ungegebremsten Austausch von Gütern und Menschen?

Ein Urner sagte mir, die stetig wachsende Mobilität sei wie eine Sucht: man könne nicht anders, obwohl man wisse, dass es schädlich sei. Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht, der Hilflosigkeit empfinden viele im Urnerland, wenn man genauer hinhört. Was zählen schon 34000 Urner angesichts der grossen europäischen Verkehrsplanung?

Gedanken des Autors zum Film

Bis vor zwei Jahren habe ich den Kanton Uri nicht besser gekannt als wahrscheinlich jeder durchschittliche andere Schweizer. In meiner Schulzeit hörte ich von der Teufelssage und von den Kehrtunnels der Eisenbahn bei Wassen mit seinem Kirchlein. In meiner Erinnerung setzten sich abenteuerliche Reisen über den Gotthardpass fest - kindliche Wahrnehmung dieser steinigen Bergwelt. Später kamen ideologische Schattierungen hinzu: der St. Gotthard als Metapher für eine wehrhafte Schweiz, für die Insel-Mentalität. Doch vor allem erlebte ich den Kanton Uri als Durchfahrtsgebiet auf dem Weg in den Süden.

Meine beiden letzten Filme erkundeten familiäre Verhältnisse, Erfahrungen und Strukturen. Waren sie geprägt von Themen, die unmittelbar aus meiner eigenen Erfahrung schöpften, nähere ich mich mit TRANSIT URI einem Stoff von aussen an. Ich nehme mit diesem Film eine andere Spur meiner Erfahrung wieder auf: die des engagierten, politischen Dokumentarfilms. Ich wollte keinen neutralen, rein beobachtenden Film realisieren, sondern meine subjektive Sicht, meine persönliche Haltung sollten einfliessen. Unter diesem Blickwinkel ist TRANSIT URI ein Versuch einer Synthese zwischen dem Persönlichen und dem Politischen.

Im Gegensatz zu den Filmen der späten 70er-Jahre und zu Beginn der Achzigerjahre ist für mich heute nicht mehr eindeutig klar, wo gut und böse sitzt. Einfache Einteilungen der Welt genügen mir nicht mehr. Gefühle der Ambivalenz gegenüber solch komplexen Fragen wie der Mobilität (oder auch der NEAT) erschweren mir, eine simple Haltung einzunehmen. Diese persönliche Erfahrung widerspiegelt viel weitergehende, gesellschaftliche Erlebensweisen. Es fällt schwer, einfache Reduktionen vorzunehmen. Damit meine ich aber nicht Haltungslosigkeit, Beliebigkeit oder Ausgewogenheit, sondern das Zulassen eigener Widersprüche.

Niemand weiss, wo es hingehen soll, sagt Alois Imholz, der Bauer im Film. Für mich ein Ausdruck davon, dass uns die sogenannten Sachzwänge bestimmen, dass gesellschaftliche und ökonomische Mechanismen wirken, die stärker sind als die freie politische Entscheidungsmöglichkeit. Wenn viele Urner ein Ausgeliefertsein empfinden, ist das für mich symptomatisch für unsere Zeit. Darum ist TRANSIT URI auch nicht ein Film, der primär über die aktuell sich artikulierende Opposition der Urner berichtet, sondern ein Film über Gefühle der Ohnmacht, hinter denen sich ein "Sich-bedroht-fühlen" verbirgt. Ich glaube, TRANSIT URI wurde fast unmerklich zum Seismographen unserer Zeit, in der das Wissen um die Probleme nicht zu Handlungsänderungen führt.

Reisezeit Basel-Chiasso via Gotthard

bis 1830 144 Stunden (6 Tage, zu Fuss)
1830 84 Stunden (3 Tage, Kutsche)
1833 72 Stunden (Schiff / Kutsche)
1882 10.5 Stunden (Dampf-Eisenbahn)
1924 6.5 Stunden (elektrische Eisenbahn)
1980 4.5 Stunden (Eisenbahn)
1980 3.5 Stunden (Autobahn)
2010 2.5 Stunden (NEAT)

Entwicklung des Verkehrs am Gotthard (Anzahl Fahrzeuge pro Jahr)

1979 1,3 Mio (davon ca. 25'000 Lastwagen
1983 3,7 Mio (283'000)
1987 4,7 Mio (468'000)
1991 6,1 Mio (603'000)
1992 6,1 Mio (659'000)