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Der Fall

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Kurt Früh 1972 101'


Oerlikon und seine Umgebung: Eine Vorstadtwelt mit kalten Fabrikgebäuden, Wohnblöcken, Einkaufszentren, Automärkten, dazwischen schäbige Altbauten, Beizen und um die Ecke ein Kleinbordell. In diesem Milieu führt Alfons Grendelmann seine Detektiv-Auskunftei. Das harzige Geschäft hat der ehemalige Zürcher Polizeibeamte aus Enttäuschung aufgezogen: Weil er das Vergehen eines Vorgesetzten aufdeckte, erhielt er statt einer Auszeichnung eine Rüge. Der Fall wurde vertuscht. Jetzt will Grendelmann selbst für Gerechtigkeit sorgen. Doch da gerät er in eine Erpressergeschichte, die ihn überfordert. Die achtzehnjährige Marsha verkauft einem Geschäftsmann ein paar Illusionen allzu teuer. Der Mann wird mit einer vorgetäuschten Schwangerschaft erpresst. Ein böses Spiel treibt das Flittchen ebenfalls mit dem Detektiv. Auch in ihm weckt sie Wünsche und Hoffnungen, und Grendelmann verstrickt sich in die Erpressergeschichte.

Erinnerungen von Georg Janett

Die Premiere fand Ende März 1972 im Zürcher Kino Capitol ohne Kurt Früh statt. Er hatte wenige Tage zuvor - wir fuhren zur Abnahme der ersten Kopie ins Ostermundiger Labor - im Zug einen Schwächeanfall erlitten und musste notfallmässig ins Spital eingeliefert werden.

Das war der Auftakt zu jenen sieben mageren Jahren, die dem damals 57-jährigen noch bleiben sollten. Ausser einigen nicht realisierten Drehbüchern und seiner Autobiografie, die unter dem Titel RÜCKBLENDEN 1975 im Zürcher Pendo Verlag erschien, kam in dieser Zeit keine grössere Arbeit mehr zustande. Sein 12. Spielfilm - der erste, den er selbst produzierte - ist damit zugleich sein letzter geworden. Der Abschied also, wenn man will das Vermächtnis jenes erfolgreichen Regisseurs, der in seinen guten Jahren von 1955 - 1963 in rascher Folge 10 Spielfilme gedreht hatte. Als die kurze Nachkriegs-Blütezeit des Dialektfilms zu Ende ging un die etablierten Produktionsfirmen eine nach der anderen aufgeben mussten, was er als Ressortleiter für das Theater am Schweizer Fernsehen tätig, wo er aber nie wirklich heimisch wurde.

Glücklicher machte ihn da schon seine Lehrtätigkeit 1967 und 1968 bei den neu geschaffenen Filmkursen der Kunstgewerbeschule Zürich. Er verstand sich gut mit den Studenten und stellte sich im turbulenten Jahr 1968 auf ihre Seite.

Wie ihm 1970 ein viele überraschendes, sehr erfolgreiches Comeback mit dem bei allem Witz doch eher traurigen DÄLLEBACH KARI gelang, leitete er daraus ab, "... dass dem Schweizer Publikum nicht nur gemütliche oder gemütvolle Genrebilder zuzumuten sind", wie er in seinen RÜCKBLENDEN schreibt.

"Seit langem trug ich mich mit dem Gedanken, eine Idee des Komponisten Werner Kruse zu realisieren. Er hatte mir vorgeschlagen, eine "Carmen von Oerlikon" zu machen - also die Geschichte des Don José ins schweizerische Milieu zu übertragen und statt der Stierkampfarena das Zürcher Hallenstadion ins Bild zu rücken. Bei der Arbeit am Drehbuch entfernte sich die Story allerdings immer weiter vom Vorbild..."

Dazu beigetragen hat das seinerzeit allgemeine Interesse am Schicksal von "Meier 19" - jenem Detektivwachmeister der Zürcher Stadtpolizei, der im Gefolge des Zahltagsdiebstahls 1962 in deren Hauptsitz sich auf spektakuläre Weise mit seinem Vorgsetzten anlegte und interne Skandale aufdeckte. Seine Entlassung war der Anlass zu ersten Demonstrationen der jungen Linken gegen den "Polizeistaat in Zürich".

Ein solcher, allerdings fiktiver, Meier sollte also ins Zentrum rücken, der, aus der Polizei ausgestossen, jetzt als Privatdetektiv mit den Schäbigkeiten des Alltags befasst ist und nach wie vor verbissen auf dem beharrt, was er für Recht und Gerechtigkeit hält. Bis ein ihm übertragener Erpressungs-Fall zu seinem eigenen wird.

Die Besetzung war beinahe schon vorgegeben: Walo Lüönd sollte erneut die Hauptrolle übernehmen. Für die eine Partnerin kam nur Annemarie Dühringer in Frage, die andere - das junge Luder Marsha, das dem Detektiv zum Verhängnis wird - war schwieriger zu finden. Nach einer längeren Suche und verschiedenen Probeaufnahmen wurde die Rolle Kathrin Buschor anvertraut, einem jungen Fotomodell mit wenig Spielerfahrung.

Mit einem Zuschussder kurz zuvor etablierten nationalen Filmförderung, der Beihilfe privater Geldgeber und einer grossen Eigeninvestition produzierte Kurt Früh den Film selbst - es gab in der Deutschschweizer Filmflaute jener Jahre keine Alternative.

Im November/Dezember 1971 fanden die Dreharbeiten statt. Ein wirklich kalter Winter kündigte sich an: bei manchen Aussenszenen musste Walo Lüönd jeweils mit kleinen Eisbrocken seinen Mund kühlen, weil er sonst mit jedem Satz eine kleine Nebelwolke aus Atemluft produziert hätte.

Aus Kostengründen wurde mit DIrektton auf dem damals neuen Super-16mm-Material gedreht, das dann im Labor auf das kinoübliche 35mm-Format "aufgeblasen" wurde; im Hallenstadion allerdings mit der stummen 35mm-Kamera und nachsynchronisiertem Ton.

In einem damals zum Abbruch bestimmten, heute renovierten Haus am Oerlikoner Platz wurde im ersten Stock das kleine Büro des Detektivs und die daneben liegende "Schreibstube für Kopien und Vervielfältigungen" eingerichtet. Auch die anderen Szenen wurden in originalen Dekors gedreht: von der Arbeiterkneipe und der Wohnsiedlung hinter den Geleisen bis zum damals noch existierenden Kino Excelsior oder dem grossen Zelt des Autoverkäufers an der Stelle, wo sich heute die Oerlikoner Zwillingstürme erheben.

Ebenso die Ausflüge in die Innenstadt: die Rockerbeiz mit realen "Hells Angels" war seinerzeit deren tatsächlicher Treffpunkt; im damals neuen Shop Ville drehten wir von den Passanten unbemerkt Szenen mit versteckter Kamera, sie befand sich samt Kameramann in einer grossen Kartonbox; auch der Hauptsitz der Stadtpolizei war authentisch, was sich in einer für das herrschende Klima bezeichnenden Szene drastisch auswirkte. Einer unserer Beleuchter fiel den Polizisten auf und wurde von ihnen als "gefährliches" Mitglied der PdA und Teilnehmer an Demonstrationen identifiziert; ein Korporal befand, das gehe nun doch zu weit und sei seinen Leuten nicht zumutbar.

Das Verhandlungsgeschick von Kurt Früh und sein Wink an den Beleuchter, er solle doch einen guten Abgang mimen, offenbar sei er hier unerwünscht, rettete die Situation. Nach seinem fröhlichen, hutschwenkenden Verschwinden ging ein hörbares Aufatmen durch die Hauptwache.

Schliesslich der Kulmunationspunkt: das Sechstagerennen im Hallenstadion, an dem ein Grossteil der Haupt- und Nebenfiguren zugegen ist, inmitten von erlebnishunrigen Nachtschwärmern, angeheiterten Habitués, Fanclubs und Damen des horizontalen Gewerbes.

Wir hatten Bedenken gehabt, in dieser angeheizten, brodelnden Atmosphäre zu drehen, aber es ging dann erstaunlich gut. Im Vordergrund jeweils unsere Darsteller, im Hintergrund das quasi dokumentarisch eingefangene Renngeschehen oder als Gratisstatisterie die Zuschauer, die kurz vor den Aufnahmen informiert und gebeten wurden, ihre Plätze zu wechseln, wenn sie nicht im Bild erscheinen wollten.

Trotzdem, nach den zum Teil durchwachten Nächten, umgeben von Bier- und Bratwurstdunst, Rauch und Lautsprecherlärm, tosendem Applaus und permanenter Musik waren wir alle rechtschaffen müde.

Zürich hatte sich seit den 68er-Unruhen verändert. Und nirgends wurde schon damals der Wandel zur kleinen Grosstadt deutlicher als in ihren Rändern, in Vorstädten wie Oerlikon.

DER FALL bleibt jener Film, in dem sich Kurt Früh - neben BÄCKEREI ZÜRRER - am stärksten auf die ihn umgebende Realität eingelassen hat. Nicht mehr romantisierend wie in den meisten früheren Filmen, sondern beinahe so radikal wie die damals mit ihren ersten Filmen ins Rampenlicht getretenen Westschweizer Claude Goretta und Alain Tanner.

"Zürich wie in bösen Träumen", war der Tenor der Fachpresse, "Zürich-Oerlikon ist eine bdrückend düstere, unheile Vorstadtwelt mit angeschlagenen, angefressenen und kaputten Menschen." Besonders hervorgehoben wurde die Präsenz von Walo Lüönd als Privatdetektiv, "dessen tragikomisches Scheitern er wirklich einsichtig zu machen vermag".

Trotz des überwiegend positiven Echos der Filmkritik blieb der Publikumszuspruch bescheiden.

Dass seine Ersparnisse mit diesem Film weitgehend aufgezehrt waren, konnte Kurt Früh verschmerzen, aber die Selbstzweifel, die ihn sein ganzes Leben begleitet haben, nahmen zu. Nach aussen weiterhin der charmante Causeur, der er immer gewesen ist, ging er langsam zugrunde an der Kälte und der Ausweglosigkeit jener Welt, die er in DER FALL gezeigt hatte.

Georg Janett, 1.10.2004