Orlan, Carnal Art
Orlan ist eine Performance-Künstlerin, die mit chirurgischen und multimedialen Mitteln ihren Körper und ihr Bild verändert.
Wie kann man heutzutage einen Künstler definieren? Ist er ein Ästhet oder ein Marginaler, ein Ikonoklast oder ein Narziss, ein Provokateur oder ein Masochist? Ist er ein Kranker oder ein Therapeut? Einer, der für sich selbst wirbt oder ist er ein Opfer des globalen Marktes? Und was ist ein Film über Kunst? Etwas, das einem Werbespot ähnelt oder eher eine Doktorarbeit? Ist es ein subjektives Tagebuch oder der Versuch, mit den neuen Errungenschaften der Videotechnik zu experimentieren? Ein Film wie ORNAL CARNAL ART von Stephan Oriach wirft zweifellos Fragen dieser Art auf. Er macht dies auf brutale und radikale Art, brutal und radikal wie es die Form von Body Art ist, die Orlan ausübt. Orlan ist eine französische Künstlerin, die sich seit mehr als zwanzig Jahren Operationen der plastischen Chirurgie unterwirft, um eine Transformation ihres Körpers zu erlangen, die gegen jegliche Schönheitsstandards der Feminilität sprechen. Sie legt sich unters Skalpell und versucht damit, die Lücke zwischen Sein und Haben, zwischen Objekt und Subjekt, zu schliessen. Orlan riskiert bei jeder Live - Operation ihr Leben, und sie spekuliert mit einer möglichen Auferstehung, sie verändert ihre Identität als eine Arbeit am Selbstportrait, sie opfert ihren Körper auf dem Altar der Kunst und der Errungenschaften der Chirurgie, um einen neuen Status der "Normalität" zu erreichen, der sich nur leicht vom vorhergehenden unterscheidet. Orlans Mut und ihre Offenheit sind unbestritten, aber sie verbirgt ihre Menschlichkeit und ihr Leiden hinter einem Schleier ultra - intellektueller Gedanken, die von einigen "Weis -Denkern" gefördert werden, die den Methoden Orlans wohl beistimmen, die aber gewiss nicht an ihrem Schmerz teilnehmen. Orlans Provokation ist dieselbe vieler anderer Frauen, die auf verschiedene Arten versuchen, die tausendjährigen Moralvorstellungen rund um den weiblichen Körper zu zerstören, ihre Performance ist aber auch als eine extreme künstlerische Erfahrung zu verstehen. Der Film von Stephan Oriach kann für manchen abstossend sein und ist nichts für zartbesaitete Gemüter, aber er begnügt sich damit, das öffentliche Gesicht Orlans zu zeigen und versucht eigentlich nie, hinter die Kulissen der Show zu schauen, was einige Fragen offen lässt über die Arbeitsmethode und über die effektive Bewegungsfreiheit des Regisseurs. Was kann die Reaktion auf diese Ambivalenz sein? Stillschweigen, oder indem man ihn akzeptiert als Ausdruck des Universums von Orlan, mit dessen Ästhetik und Erzählweise er in perfekter Harmonie steht. Da die Künstlerin ihren Körper als "Ausdruck der Freiheit" und als "Ort einer öffentlichen Debatte" bezeichnet, ist zu wünschen, dass auch der Film Anlass für eine möglichst freie und umfassende Auseinandersetzung sein kann.
Semaine de la Critique Locarno