Mutter

Der Film erzählt die emotionale Geschichte einer Frau, die nach dem Ungarnaufstand von 1956 mit ihrem 6-jährigen Sohn in die Schweiz flüchtet, während ihr Mann vom kommunistischen Regime in Ungarn als führender «Konterrevolutionär» hingerichtet wird. In der Schweiz führt sie ein Emigrantendasein. Eine erneut dramatische Konfrontation mit der Geschichte erlebt sie, als sie besuchsweise in die alte Heimat zurückkehrt, wo ihr Mann nach dem Ende des Kalten Krieges posthum zum Helden geworden ist. Es ist das bewegte Leben der Mutter des Regisseurs, zwischen Liebe und Politik.

Warum dieser Film?

Von Miklós Gimes

Im Sommer 1989 suchte ich Peter Frey auf, meinen damals eben pensionierten Chefredaktor beim «TAMagazin ». Ich erzählte ihm von der bevorstehenden Rehabilitaion meines Vaters und fragte ihn, ob ich als Privatmann nach Ungarn gehen soll oder als Journalist.

«Gehen Sie, wie Sie wollen, aber schreiben Sie etwas», sagte Frey, «wäre ich noch Ihr Chef, würde ich es Ihnen befehlen.» Ich habe nichts geschrieben. Weder an der Beerdigung, noch später, noch vorher. Ich habe nie etwas geschrieben. Das Thema meiner Herkunft war kein Thema für die Öffentlichkeit. Vielleicht haben einige meiner Angehörigen recht, die sagen, die Saat meiner Mutter sei aufgegangen. Lucy habe mich bewusst von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ferngehalten, um sich selbst nicht mit unangenehmen Fragen konfrontieren zu müssen. Tatsache ist, dass ich all die Jahre nicht wahrnehmen wollte, dass ich zumindest in Ungarn zum Umkreis einer öffentlichen Figur gehöre, die einen Mythos repräsentiert, den Mythos vom Mann, der bewusst seinen Tod auf sich nimmt. Doch mir war meine Herkunft eher peinlich, ich fühlte mich privilegiert gegenüber den in Ungarn gebliebenen Kindern der Repressionsopfer des Ungarnaufstands, die Jahre lang diskriminiert worden sind und manchmal nie den Weg zu einem erfüllten Leben gefunden haben. Angehörige und Freunde meines Vaters haben mein Desinteresse für meine Herkunft erstaunt beobachtet. Es ist mir aufgefallen, dass ich im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten zu diesem Film meine ersten intensiven Gespräche seit der Kindheit mit ihnen führen konnte. Mir schien, als hätten sie schon lange auf mich gewartet. Dabei stand für diese Menschen immer das Erbe meines Vaters, des Gefährten und politischen Vorbilds ihrer Jugend, im Vordergrund, doch jetzt wird aus meinem endlich erwachten Interesse ein Film über meine Mutter. Offenbar musste ich fünfzig Jahre alt werden, um einen persönlichen Blickwinkel zu finden.

Hat meine private Geschichte einen allgemeinen Hintergrund? Dazu kann ich nur sagen: Der allgemeine Hintergrund ist das Private. Mit anderen Worten: Das Zusammenspiel von Geschichte und Privatem macht die Authentizität des Themas aus. Weil sich für meine Mutter das politische Moment der Revolution untrennbar verbindet mit dem persönlichen Moment der persönlichen Krise, gerade dieses extrem Private macht es aus, dass der Film für die Allgemeinheit interessant sein könnte.

Historischer Hintergrund

Eine Zusammenfassung über Ungarn und seine Geschichte von Miklós Gimes

In ein bis zwei Jahren werden die ostmitteleuropäischen Länder der EU beitreten, - was wissen wir über ihre Geschichte? Was wissen wir über Ungarn, das den Kreis der EU-Länder verstärken wird, die keine bürgerliche Revolution gekannt haben?

1921-1945: Schatten der k.u.k Monarchie

Lucy Gimes wurde 1921 in ein Land aus der Konkursmasse der k.u.k. Monarchie hineingeboren, das von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs übel zurechtgestutzt worden war. Ungarn verlor etwa die Hälfte seines Gebietes und einen Drittel seiner Einwohner an die umliegenden Staaten. In diesem Klima der nationalen Demütigung hätte es jede Demokratie schwer gehabt, geschweige denn ein Land, das seit eh und je von Adeligen und Grossgrundbesitzern regiert worden war.

Es war deshalb nicht erstaunlich, dass in Ungarn nach dem Zusammenbruch der Monarchie eine kommunistische Räterepublik nach sowjetischem Muster entstand, die aber nach hundert Tagen von englischen, französischen und rumänischen Truppen in die Zange genommen wurde. Die darauf folgenden Machthaber, eine reaktionäre Militärjunta unter der Führung von Miklós Horthy, dem letzten Konteradmiral der k.u.k. Flotte, versprachen den Westmächten, die neuen Landesgrenzen zu respektieren. Horthy betrieb mit einer Koalition aus Adeligen, Geistlichen und Militärs eine Art aufgeklärter pseudoparlamentarischer Diktatur, die dem Land einen gewisse Stabilität, aber gleichzeitig eine furchtbare geistige Enge bescherte, obwohl Horthy englandfreundlich war.

Antisemitismus

Dass die Frage der verlorenen ungarischen Gebiete das öffentliche Leben dominierte, sieht man am besten daran, dass das Horthyregime als erstes Land in Europa schon in den frühen 20er Jahren antisemitische Gesetze einführte, den Numerus clausus an den Universitäten zum Beispiel, ausgerechnet in einem Land, in dem die jüdische Assimilation weit fortgeschritten war. Doch Horthy musste ein neues Feindbild finden, um die aufgestauten nationalistischen Gefühle zu kanalisieren: Die sozial erfolgreichen Juden, ein Zehntel der ungarischen Bevölkerung, boten sich an. Folge der Judengesetze war ein verheerender Abfluss von Akademikern und Künstlern in den Westen. In diesem Land also wuchs Lucy auf. Nach Hitlers Machtübernahme suchte Horthy den Kontakt mit dem Führer, der den Bündnispartner mit der Rückgabe der verlorenen Staatsgebiete honorierte. Bei Kriegsausbruch versuchte Horthy zu lavieren und die Deutschen von Ungarns Grenzen fernzuhalten, in dem er ihnen Truppen als Kanonenfutter nach Russland schickte. Doch im Frühling 1944, als Horthy einen Separatfrieden mit England anstrebte, besetzten die Deutschen Ungarn. Es war Adolf Eichmans Stunde, der mit tatkräftiger Unterstützung solid antisemitischer ungarischer Polizeitruppen in wenigen Monaten rund eine halbe Million ungarischer Juden nach Ausschwitz deportierte. Schon in den Jahren zuvor hatten die Ungarn in vorauseilendem Gehorsam für jüdische Männer Arbeitslager errichtet, in einem dieser Lager war Lucys Bruder umgekommen.

1945 bis heute: Salami-Taktik

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Im Winter 1944/45 wurde Ungarn nach der erbitterten Schlacht um Budapest durch die Russen besetzt. Ungarn wurde von den Siegermächten dem russischen Machtbereich zugeteilt. Die ersten ersten freien Wahlen gewann eine bürgerlich dominierte Koalition, die Kommunisten hatten bloss einen sechstel der Stimmen erhalten. Die kommunistische Partei Ungarns war während der Horthydiktatur praktisch zerschlagen worden. Die neu aufgebaute Partei stützte sich auf die russische Armeepräsenz im Land, auf die in Moskau ausgebildete Führungsschicht und auf Tausende junger Idealisten, wie meinen Vater und meine Mutter, die nach dem zweiten Weltkrieg von einer besseren Zukunft träumten. In den folgenden Jahren entstand durch gezielten Terror und Wahlfälschung eine kommunistische Volksrepublik. «Salamitaktik» nannte Parteichef Ràkosi dieses Vorgehen der schleichenden Machtübernahme, die 1948 abgeschlossen war.

Stalinismus

Zwischen 1949 und 1953 kam es in Ungarn nach russischem Vorbild zu stalinistischen Schauprozessen, Unschuldige wurden mit Folter zu Aussagen gezwungen, um propagandistische Exempel zu statuieren. «Klassenfeinde» aller Art wurden in KZ-ähnlichen Lagern interniert. Die meisten Opfer fanden sich innerhalb der kommunistischen Partei, deren Mitglieder zu unkritischen Parteisoldaten eingeschüchtert werden sollten. Prominentestes Opfer dieser Säuberungen war Aussenminister Làszlo Rajk. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 wurden die Gefängnisse und Lager geleert, was dem Reformkommunisten Imre Nagy grosse Popularität einbrachte. Eine Kehrtwendung in Moskau brachte aber 1955 die Altstalinisten wieder ans Ruder.

Die Revolution von 1956

Im Herbst 1956 kam es zuerst in Polen, dann in Ungarn zu einer Explosion der Volkswut. Die Vehemenz der ungarischen Revolution überraschte auch die Reformkommunisten. Innert 24 Stunden hatte eine friedliche Demonstration zu einem bewaffneten Volksaufstand eskaliert. Die wieder an die Macht gespülten Reformkommunisten erlaubten die verbotenen bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien und riefen die nationale Neutralität aus. Nach vier Tagen blutiger Kämpfe verliessen die ersten russischen Truppen das Land.

Eine Verhärtung der internationalen Lage durch einen Angriff der Engländer und Franzosen auf den Suezkanal, veranlasste die Russen zu einer Kehrtwendung. In wenigen Tagen wurde Ungarn mit russischen Truppen überflutet und der Aufstand zerschlagen. (Amerika hatte den Russen freie Bahn signalisiert). Aufrufe zum passiven Widerstand und ein Generalstreik hielt die neue russenfreundliche Regierung des abtrünigen Nagy-Gefolgsmanns Jànos Kàdàr noch während einiger Monate in Atem, doch bereits im Frühling 1957 hatte das neue Regime das Land im Griff.

Kádár-Regime und Wende

Nach dunklen Jahren unerbittlicher Repression, der Tausende zum Opfer fielen, hatte sich das Kàdàrregime so weit etabliert, dass es mit vorsichtigen Reformen (Privatbesitz, Reisen ins Ausland) beginnen konnte. In den folgenden Jahren galt Ungarn als «die lustigste Baracke» des Sozialismus. Die Erinnerung an die Revolution von 1956 wurde vom Regime systematisch verdrängt. Als 1989 im Sommer der Wende die Toten des Aufstands beigesetzt wurden, war dies für viele Menschen die erste Gelegenheit, über die verdrängte Vergangenheit zu reden. Heute gilt der 23. Oktober, erster Tag des Aufstands, in Ungarn als nationaler Feiertag.

Der Ungarnaufstand und der Westen

Im Westen beherrschte der Ungarnaufstand wochenlang die Medien. Die Kommunistische Bewegung erlebte einen schweren Rückschlag, Tausende traten aus den kommunistschen Parteien aus.

Auch für die Schweiz war der Ungarnaufstand ein einschneidendes Ereignis. Von den über Hunderttausend Flüchtlingen fanden etwa Zehntausend in der Schweiz Aufnahme. Das Schweizervolk zeigte sich solidarisch mit dem niedergewalzten Kleinstaat im Osten, vereinzelt kam es zu antikommunistischen Pogromen.

Historiker werten den Ungarnaufstand als ein zentrales Ereignis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weil die Revolte den Anfang vom Ende der Sowjetmacht einläutete. Ungarn 1956 war der Beginn einer langen Reihe von Aufständen in Osteuropa, die in Belgrad im Herbst 2000 ihr Ende gefunden hat.



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