La forteresse
La forteresse
CH 2008 101'
Regie: Fernand Melgar
Drehbuch: Fernand Melgar, Alice Sala, Claude Muret
Kamera: Camille Cottagnoud
Ton: Marc von Stürler
Schnitt: Karine Sudan
Produktion: Climage
In einem Empfangszentrum im waadtländischen Vallorbe begleitet der Dokumentarfilmer Fernand Melgar Asylbewerber während des Verfahrens, bei dem innert 60 Tagen ihr Flüchtlingsstatus anerkannt oder abgelehnt wird. Hier kommt etwa ein Armenier nachts in einem LKW an, erhält ein paar Toilettenartikel und trifft im Schlafraum einen anderen Russischsprachigen, der ihn auf einen Rundgang durchs Haus mitnimmt. Während zweier Anhörungen durch einen Bundesbeamten müssen die Bewerber ihre Anwesenheit in der Schweiz mit den Gefahren begründen, denen eine Rückkehr in ihr Ursprungsland sie aussetzen würde. Da versucht zum Beispiel diese Angestellte des Zentrums einem jungen Togoer zu erklären, dass sein Land jetzt sicher sei und er zurückkehren müsse, wo dieser doch bloss seinen in der Schweiz wohnhaften Vater wiedersehen will und nicht begreift, warum man ihm das verwehrt. Manchmal entsteht ein echter Gemeinschaftsgeist wie an diesem langen Winterabend, als der Leiter des Zentrums zu einem Gottesdienst eingeladen wird und bewegt auf diese Gläubigen schaut, die fernab von Heimat und Familie sich Hoffnung und ein Lächeln bewahrt haben. Der Film bleibt nicht an einem Einzelfall hängen, sondern streift durch diesen Ort der «Selektion», begegnet Wächtern, Beamten und dem Geistlichen, die alle angesichts der schwierigen menschlichen Situationen widersprüchliche Gefühle erleben: Ermattung und Zorn, Ohnmacht und Freude. Vor allem jedoch dokumentiert La forteresse das Schicksal und den Austausch zwischen Menschen aus allen Winkeln der Erde (Kurdistan, Irak, Kosovo, Litauen, Togo, Ghana, Kolumbien u. a.), die angetrieben von Hoffnungslosigkeit und Elend in ihren Ländern oder aus wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz kommen. Fernand Melgar nimmt uns mit in diese unbekannte Welt der Schweizer Empfangszentren für Asylbewerber und zeigt das Klima, das dort herrscht.
"Ein Film von bemerkenswerter Sensibilität und tiefer menschlichen Intelligenz. Eine diskrete und gemeisterte Umsetzung, welche nie voyeuristisch ist und die Aussage gezielt und bewegend rüberbringt".
Rencontres Internationales du Documentaire de Montréal
«Empfangs- und Verfahrenszentrum», so heisst dieser Transitraum in amtlichem Deutsch. Mindestens zur Hälfte klingt das hübsch gastfreundlich, und so ist es nur recht, wenn ein paar Afrikaner den lieben Gott in einem flammenden Bittgesang ersuchen, er möge die Schweizer Behörden beschützen und ihnen Gastfreundschaft eingeben. Neben ihnen steht der Beamte und verzieht keine Miene doch dann wippt sein Fuss doch im Takt. Das hat die dramatischen Qualitäten eines Spielfilms. Und wenn ein albanisches Mädchen einen Pullover mit Stacheldrahtmuster trägt, könnte man fast meinen, da habe ein Regisseur noch ein symbolträchtiges Requisit in seinen Dokumentarfilm geschmuggelt.
Ganz ohne Kommentar lässt Melgar die Gesichter der Menschen sprechen, und zwar beidseits der unsichtbaren Wand, die sie trennt. Wir hören ihre Geschichten des Leids und ertappen uns manchmal dabei, sie auf undichte Stellen abzuklopfen. Wir sehen Beamte, die in ihrem Job erstaunlich nahtlos zwischen kalter Bürokratie und Seelsorge pendeln. Und wir hören Übersetzer, die sogar einen Roma-Seufzer pflichtschuldigst ins Französische übersetzen: Ouf!
Florian Keller, Tages Anzeiger
"Die komplexe Wirklichkeit eines surreal anmutenden Transitalltags in der «Festung» schlägt uns aus dem Film in ihrer ganzen Wucht entgegen: Wann ist das Boot voll? Was ist Not und wie definiert sie sich? «Nur» ökonomisch? Oder politisch wie im Fall des jungen, an Leib und Leben bedrohten Irakers, dessen Ausschaffung in diesen Tagen über eine superprovisorische Verfügung verhindert werden konnte? Oder genügte psychische Not? Was ist während der vierstündigen (und von Melgar stets vollumfänglich gefilmten) Befragungen Erfindung wie vielleicht beim Jungen, der von Kannibalismus auf einem Boot erzählt und bei der Befragerin diffuse, aber hartnäckige Zweifel wachruft? Wo wird vielleicht abgebrüht eine Show durchgezogen wie von der fahrenden Sippenmutter, deren Tochter urplötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen ist?"
Martin Walder, NZZ
"Durch die nüchterne Betrachtung überlässt der Regisseur das Urteil fast ganz dem Publikum. Melgar verzichtet zwar auf Manipulation durch Musik oder Interviews, aber die (bewusste oder unbewusste) Entscheidung, den Film im Winter zu drehen, beeinflusst die Wahrnehmung trotzdem. Der dichte Nebel verstärkt den Eindruck von Isolation und Trostlosigkeit. Darüber täuscht auch eine in den Schnee gezeichnete, lachende Figur nicht weg. Die Sonne scheint für diese Asyl Suchenden offensichtlich nicht. Wie auf den Film reagiert wird, hängt ganz bestimmt von der eigenen Einstellung hinsichtlich der «Asylfrage» ab. Der offene Blick von Melgar lässt auf jeden Fall alle möglichen Herangehensweise zu: Ärger über die vermutlich lügende Roma-Mutter, Kopfschütteln über die kühle Beurteilung der erzählten Geschichten, Mitleid mit dem verzweifelten Armenier. Zur Erweiterung des eigenen Horizonts ist der Dokumentarfilm unabhängig von der persönlichen politischen Einstellung auf jeden Fall zu empfehlen."
Thomas Hunziker, filmsprung
"Wie ein unsichtbarer Beobachter schildert der Autor, was er sah und hörte, ohne Interviews, ohne Kommentar, ohne Musik. Kritische, engagierte und parteiische Filme zu diesem Thema gibt es bereits. LA FORTERESSE macht die hoch komplexe Problematik ohne Stellungnahme erlebbar, wahr-nehm-bar und bietet sie als sinnliche und sinnvolle Ergänzung zur Auseinandersetzung und Meinungsbildung an. «Wir wissen nicht, wo sie herkommen, und sie wissen nicht, wo sie hingehen», meint Estrela von der Fürsorge zu ihrem Dilemma."
der andere film
Kommentar des Regisseurs
Am 24. September 2006 stand es fest: Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung (68 Prozent) sagte Ja zu einer Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts. Die Tagesschau fasste die Neuerungen so zusammen: Abgewiesene Asylbewerber haben kein Recht mehr auf Sozialhilfe; wer trotzdem bleibt, riskiert zwei Jahre Haft (ab 15-jährig); Sans-papiers werden innerhalb von 48 Stunden ausgeschafft; Durchsuchungen können ohne entsprechenden Befehl durchgeführt werden In der Folge wollte ich herausfinden, was hinter der Angst vor dem anderen steckt, was uns dazu bringt, unsere Tür zu verriegeln und dieses Land in eine uneinnehmbare Festung zu verwandeln. Dazu habe ich meinen Blick auf einen hochstrategischen Ort gerichtet: ein Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) denn dort werden die Flüchtlinge gesiebt, dort entscheidet sich das Schicksal der Asylsuchenden.